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Evergrandes Probleme symbolisieren die Übernahme der Wirtschaft durch den chinesischen Staat

Geschrieben von iBanFirst | 29.09.2021 08:17:40

Die Leugner und Panikmacher liegen falsch. Die Schwierigkeiten von Evergrande sind weder ein Epiphänomen noch ein Zeichen für einen bevorstehenden Zusammenbruch des chinesischen Finanz- und Wirtschaftssystems. Man muss verstehen, dass das, was in China geschieht, eine direkte Folge der von der Kommunistischen Partei Chinas verfolgten Politik ist. Diese versucht, die Verschuldung privater und öffentlicher Akteure zu begrenzen und abzubauen. Diese Entwicklung begann vor einigen Jahren und hat insbesondere bei staatlichen Unternehmen zu zahlreichen Insolvenzen geführt. Ziel ist es, eine Form der Marktdisziplin einzuführen. Wenn Unternehmen falsche strategische Entscheidungen getroffen haben, müssen sie bereit sein, die Konsequenzen zu tragen, auch wenn dies zum Konkurs führt. Handelt es sich um ein systemrelevantes Unternehmen, d.h. sein Ausfall könnte sich auf andere Teile des Wirtschafts- und Finanzsystems auswirken, schreitet die chinesische Zentralregierung ein. Aber nicht um jeden Preis.

  • Geisterstädte 

Evergrande wurde 1996 als Bauträger gegründet. Dank des starken Wachstums auf dem Wohnungsmarkt konnte das Unternehmen schnell expandieren. Das Unternehmen ist heute an 1.300 Immobilienprojekten in 280 Städten beteiligt und hat in die Bereiche Vermögensverwaltung, Lebensmittel und Herstellung von Elektroautos expandiert. Zur Finanzierung dieses Wachstums hat Evergrande Kredite in Höhe von umgerechnet rund 300 Milliarden Euro aufgenommen. In den letzten Tagen hat sich jedoch herausgestellt, dass Evergrande nicht über genügend Kapital verfügt, um die Zinsen für einige Kredite zu zahlen. Wenn die Kreditgeber ihr Geld abschreiben müssen, könnten auch sie in Schwierigkeiten geraten. In einigen Artikeln wurde bereits ein Vergleich mit dem Dominoeffekt gezogen, der 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers auftrat. 

Dazu wird es nicht kommen, denn die chinesische Wirtschaft ist anders strukturiert als die amerikanische. Da die Banken sich nicht mehr trauten, sich gegenseitig Geld zu leihen, trocknete die Liquidität in der Finanzwelt während der Kreditkrise völlig aus. In China - wo die meisten Banken in Staatsbesitz sind - ist dies kein Problem. Außerdem hat Evergrande fast ausschließlich Kredite in Renminbi abgeschlossen. Das macht es für China relativ einfach, einen möglichen Bankrott im eigenen Land zu regeln. Außerdem haben die kleinen wirtschaftlichen Brände, die das Land noch zu löschen hat, kaum Auswirkungen auf die Währungswelt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Renminbi - trotz der Evergrande-Unruhen der letzten Tage - fast genau auf dem gleichen Stand wie vor einer Woche steht.

Evergrande ist nur der Baum, hinter dem sich der Wald verbirgt. In China gibt es zehntausende kleinerer Bauträger, die irgendwann in Konkurs gehen werden. Die derzeitige Situation beschleunigt nur ihren Untergang. Die Schwächen des chinesischen Immobiliensektors sind hinlänglich bekannt. Geisterstädte, in denen neu gebaute Wohnungen unbewohnt bleiben, sind ein Symbol dafür. Schätzungen zufolge könnten in China fast 90 Millionen Menschen in leerstehenden Wohnungen untergebracht werden. Das ist, als würde man die gesamte Bevölkerung Frankreichs und Belgiens in diese Wohnungen umsiedeln.

Eine gängige Praxis von Bauträgern ist es seit vielen Jahren, Grundstücke zu Preisen anzubieten, die weit über den Marktpreisen liegen. Evergrande hat sich in diesem Bereich ausgezeichnet. Dabei spielte es keine Rolle, zu welchem Preis das Land gekauft wurde, da das Risiko auf die Käufer der Wohnungen und die Banken, die den Kauf finanzierten, übertragen wurde. Dieses Modell funktionierte auch deshalb gut, weil die Immobilienpreise stiegen. Die Zentralregierung musste eingreifen, um dies zu verhindern. Sie konnte nicht zulassen, dass sich die Immobilienblase weiter aufbläht. Sie konnte auch nicht zulassen, dass die Käufer einen großen Wertverlust erleiden, wenn die Blase platzte.

  • Übermittlungskanäle

Einige der Unternehmen von Evergrande werden von der chinesischen Regierung über staatliche Unternehmen gerettet. Dies sind die Geschäfte, die systemische Folgen haben können. Andere wie z.B. das Vermögensverwaltungsgeschäft werden in Konkurs gehen. Es müssen Untersuchungen durchgeführt werden und das Management von Evergrande wird wahrscheinlich vor Gericht gestellt. Auch einige leitende Angestellte werden verschwinden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Probleme von Evergrande zu dauerhaften internationalen Auswirkungen führen, ist jedoch gering. Die finanziellen Verpflichtungen der Gruppe bestehen hauptsächlich gegenüber lokalen Akteuren. Das chinesische Finanzsystem ist nicht sehr offen, was in diesem Fall eine gute Nachricht ist.

Unserer Ansicht nach gibt es drei Übertragungskanäle zum Rest der Weltwirtschaft:
1) Wachstum 
2) Finanzmärkte 
3) Handelswaren.
 

 1) Die Umstrukturierung von Evergrande wird Zeit brauchen. Die chinesische Regierung wird alles Notwendige tun, um der Wirtschaft über die Zentralbank ausreichend Liquidität zuzuführen. Die chinesische Wirtschaft, wird sich jedoch kurzfristig stark abschwächen. Dies ist unvermeidlich, da das Land stärker von Immobilien abhängig ist als Irland und Spanien vor der globalen Finanzkrise und weit mehr als die USA auf dem Höhepunkt des Jahres 2005. Das wird Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben, da der Beitrag Chinas zum weltweiten Wachstum 30 % beträgt. Dieser Anteil entspricht dem gemeinsamen Beitrag der Eurozone und der USA. Die Volkswirtschaften, die über den internationalen Handel direkt von China abhängig sind, sind am stärksten gefährdet. Dazu gehören Südkorea, Japan und Deutschland.

Es ist auch zu erwarten, dass Störungen im internationalen Handel, wie z.B. zunehmende Lieferverzögerungen, kurzfristig stärker werden, wenn Chinas wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten zunehmen. Der starke wirtschaftliche Aufschwung nach dem Eindämmungszyklus wird nur von kurzer Dauer sein. Das globale Wachstum wird sich zumindest in den nächsten zwei bis drei Quartalen verlangsamen.

2) Die Finanzmärkte sind ein indirekter Kanal der Ansteckung. Die chinesische Wirtschaft ist immer noch ziemlich geschlossen und seine Finanzmärkte sind sogar noch stärker abgeschottet. Andererseits werden ausländische Unternehmen, die einen großen Teil ihres Umsatzes auf dem chinesischen Markt erzielen, benachteiligt. Dies ist bereits bei französischen Luxusunternehmen, die an der Börse notiert sind und deren Bewertungen in den letzten Wochen gesunken sind, zu beobachten.

Auch die Nachfrage nach dem japanischen Yen und dem US-Dollar hat in den letzten Wochen zugenommen. Beide Währungen dienen als sicherer Hafen in unsicheren Zeiten und tragen dazu bei, das Risiko zu verringern. Der Schweizer Franken, der ebenfalls als sicherer Hafen gilt, hat von der Bewegung weniger profitiert, da die Schweizerische Nationalbank weiterhin auf dem Devisenmarkt interveniert, um die Aufwertung der Schweizer Währung zu verringern. Kurzfristig dürften der Yen und der Dollar die großen Gewinner der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme Chinas sein.

3) Schließlich wird erwartet, dass die chinesische Nachfrage nach Rohstoffen kurzfristig zurückgehen wird. Der Immobiliensektor ist ein wichtiger Abnehmer von Stahl, weshalb die Preise wahrscheinlich fallen werden. Am Rande könnte dies zu einem Rückgang von Rohstoffwährungen wie dem australischen Dollar, dem neuseeländischen Dollar und dem südafrikanischen Rand führen. Letztere ist einer der großen Verlierer der Rückkehr des Risikos an den Devisenmarkt und fiel innerhalb einer Woche um fast 1,4 %.

Evergrande ist für China kein Zufall.
Der oft gezogene Vergleich mit Lehman Brother ist falsch. Die Umstrukturierung von Evergrande, die nur noch eine Frage der Zeit ist, symbolisiert die Umsetzung eines neuen chinesischen Wirtschafts- und Finanzmodells, das vor einigen Jahren vorgestellt wurde. Dieses Modell basiert auf einem geringeren Wachstum mit weniger Verschuldung und einer besseren Verteilung der Ressourcen auf produktive Tätigkeiten, wie z.B. den Innovationssektor. Dieser Übergang wird einige Zeit beanspruchen und ist nicht ohne Risiko. Es gibt viele andere Evergrande in anderen Tätigkeitsbereichen. China hat jedoch einen entscheidenden Vorteil: Die Zentralregierung kontrolliert direkt oder indirekt die gesamte Wirtschaft.