Letzlich war die Frist, welche eigentlich am vergangenen Sonntag abgelaufene wäre am Ende dann doch keine harte Deadline. Wieder einmal stocken die Verhandlungen zwischen London und Brüssel, obwohl wir nur noch ein paar Tage vom Ende der Übergangsphase am 31. Dezember 2020 entfernt sind.
iBanFirst untersucht den aktuellen Stand der Verhandlungen, die Auswirkungen des Brexits auf die Volkswirtschaften auf beiden Seiten des Ärmelkanals sowie das Devisenpaar EUR/GBP und was wir in Anbetracht der aktuellen Fortschritte erwarten können.
Zurzeit gibt es zwei wesentliche Streitpunkte, die die Verhandlungen verzögern, und das schon seit mehreren Monaten.
Großbritannien soll der Europäischen Union insbesondere Garantien gewähren, dass faire Regeln in Bezug auf Wettbewerb und Governance am Ende der Übergangszeit angewandt und aufrechterhalte werden. Besonders besorgt ist die EU über Staatsbeihilfen und die Umsetzung von glaubwürdigen Kontroll- und Anwendungsmechanismen bei Subventionen. Oder anders ausgedrückt: Die EU befürchtet, dass Großbritannien, um seine Wirtschaft nach dem Brexit zu schützen, auf staatliche Beihilfen zurückgreifen wird, was für EU-Unternehmen ungerechte Wettbewerbsverhältnisse bedeuten würde.
Zurzeit gibt es zwei Optionen: entweder stellt Großbritannien Regelungen bereit, die ausreichend Garantien für die Europäer bieten, oder es wird ein Schlichtungsmechanismus eingeführt, welcher auf die Beilegung von Streitigkeiten abzielt.
Die EU und vor allem Frankreich werden Zugeständnisse bei dem heiklen Thema Fischerei machen und damit anerkennen müssen, dass die Anwendung der gleichen Fangquoten ungerecht wäre, wenn Großbritannien ein nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörender Küstenstaat wird.
Dieses Thema ist sowohl in Paris als auch in London seit Monaten eine Quelle der Frustration. Um dieses Problem zu umgehen, hat die EU Zugeständnisse bezüglich des zukünftigen Zugang Großbritanniens zum Energiebinnenmarkt vorgeschlagen. Doch die britische Regierung hält diesen Vorschlag für ungenügend.
Eine mögliche Konfliktlösung könnte in Form einer direkten Intervention von Bundeskanzlerin Angela Merkel kommen. Insbesondere beunruhigt sie der Brexit, da die Automobilindustrie des Landes stark vom Ausgang der Handelsgespräche abhängt. Gespräche zwischen der Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron könnte daher der effektivste Weg zu Streitlösung sein, was das Thema der Fischerei betrifft.
Ende der Übergangsphase.
Die EU wird vollständige Grenzkontrollen einführen; in Großbritannien selbst werden diese Kontrollen schrittweise eingeführt. Aus der EU nach Großbritannien importierte Standardgüter (z. B. Kleidung, Elektronik) unterliegen den Basiszollvorschriften (z. B.: Verzeichnis, in dem alle Waren erfasst sind). Die entsprechenden Zollerklärungen müssen dann innerhalb von sechs Monaten nach der Einfuhr erfolgen. In den ersten sechs Monaten sind keine Sicherheitserklärungen erforderlich. Am Ankunftsort der Waren können physische Kontrollen durchgeführt werden.
Von diesem Zeitpunkt an müssen aus Großbritannien in die EU importierte Waren tierischen Ursprungs (z. B. Eier, Fleisch, Honig) vorab beim Zoll angemeldet werden; außerdem muss eine Gesundheitsbescheinigung ausgefüllt und unterzeichnet werden.
Großbritannien führt vollständige Grenzkontrollen ein. Für alle britischen Importe aus der EU ist automatisch eine Zollerklärung am Abgangsort und eine Zahlung der entsprechenden Zölle erforderlich. Auch Sicherheitserklärungen werden erforderlich sein.
Die Bank of England (BoE) rechnet 2020 mit einer Corona-bedingten Rezession von -11 %, bevor es 2021 zu einer wirtschaftlichen Erholung von +7,25 % kommt. Diese Erholung soll durch die Aufrechterhaltung von fiskalischen Stützungsmaßnahmen und auch durch den Optimismus herbeigeführt werden, den die im Dezember begonnene Impfkampagne beschert. Geimpft werden zunächst Personen mit besonders erhöhtem Risiko und Pflegekräfte.
Die Risiken einer steigenden Inflation halten sich in Grenzen, solange die Binnennachfrage noch nicht wieder zu ihrem Vor-Krisen-Niveau zurückgefunden hat. Am Arbeitsmarkt ist mit der sich abzeichnenden Pleitewelle (z. B. Insolvenz des Konzerns Arcadia, dem Eigentümer von Topshop) in den kommenden Monaten mit einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosenquote zu rechnen, vor allem im Dienstleistungsgewerbe.
Die britische Wirtschaft wird von der Bank of England seit Beginn der Pandemie kräftig unterstützt, ähnlich wie dies die EZB praktiziert. Der Leitzins dürfte 2021 bei einem historischen Tiefstand von 0,1 % bleiben. Das Anleihenankaufprogramm (QE), das einen Umfang von 895 Mrd. Pfund Sterling (GBP) erreicht, dürfte verlängert werden, um langfristig attraktive Finanzierungsbedingungen zu gewährleisten.
Seit Anfang März 2020 hat die BoE etwa 50 % der in Großbritannien ausgegebenen Staatsanleihen aufgekauft, damit sich das Land kostengünstig refinanzieren kann. Diese Unterstützung soll 2021 anhalten, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach Corona zu gewährleisten und mit dem Brexit verbundene Eventualitäten zu bewältigen. Anders ausgedrückt, Großbritannien dürfte keine Schwierigkeiten haben, sein kolossales Defizit von 400 Mrd. GBP zu extrem niedrigen Zinsen zu refinanzieren.
Die BoE prüft seit einigen Monaten zudem die Einführung von Negativzinsen ähnlich wie in der Euro-Zone. Bislang wurde hierzu noch keine Entscheidung getroffen. Nach unserer Auffassung überwiegen die negativen Effekte einer solchen Maßnahme (sinkende Rentabilität für Banken, Schwierigkeiten für Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds) etwaige Vorteile (Lockerung der Finanzbedingungen). Die konjunkturelle Wiederbelebung müsste 2021 schon geringer als von der BoE erwartet ausfallen, damit sie sich zur Einführung dieses neuen geldpolitischen Instruments entschließt.
Im Vergleich zu den wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie und den Spannungen zwischen West- und Osteuropa ist der Brexit für Europäer kein vorrangiges Thema. Durch den Brexit werden bestimmte Länder (z. B. Irland und Deutschland) und bestimmte Wirtschaftssektoren (Nahrungsmittelindustrie in Frankreich) stärker belastet als andere. Daher sind in den EU-Mitgliedstaaten spezifische Stützungsmaßnahmen geplant.
Die wirtschaftliche Realität ist einfach: In ihrer Handelsbilanz ist die EU weniger abhängig von Großbritannien als Großbritannien von der EU. Diese Aussage lässt sich mit Hilfe von zwei Zahlen veranschaulichen::
In der EU entstehen durch den Brexit also sicherlich geringe wirtschaftliche Schwierigkeiten.
Die drei möglichen Szenarien für die Beziehungen zwischen Großbritannien und EU:
Mögliche Szenarien | Eintrittswahrscheinlichkeit | Erläuterung | Effekt auf EUR/GBP-Wechselkurs | Zu beobachtende Kursstände bei EUR/GBP |
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Vereinbarung vor dem Ende der Übergangsphase (31.12.2020) | 10% |
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Dieses Szenario ist vom Markt nicht „eingepreist“. Sollte es sich verwirklichen, würde das Pfund Sterling sprunghaft ansteigen. Doch, dieses Szenario ist eher unwahrscheinlich. | 0.88/0.89 |
Fortsetzung der Verhandlungen über die Übergangsphase hinaus | 50% |
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Diese Entwicklung wird vom Markt allmählich in die Kurse eingepreist. Eher positiv für das Pfund Sterling.
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0.90 |
Keine Vereinbarung | 40% |
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Ein „No Deal“ Ende Dezember wäre das schlechteste der Szenarien zum ungünstigsten Moment. In Abwesenheit der Marktteilnehmer würden Algorithmen das Geschehen bestimmen. Möglicherweise würde es zu einem Flash Crash der britischen Währung am Devisenmarkt kommen (blitzartiger Kurseinbruch auf einem illiquiden Markt).
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0.94/0.95 |